Die AQUARIUS ist bereit zum Rettungseinsatz an einer mörderischen Grenze
von Klaus Vogel
Vor einer Woche ist die AQUARIUS vor der Küste von Libyen eingetroffen. Am vergangenen Samstag haben wir das Schiff bei der Rettungsleitstelle für das zentrale Mittelmeer, dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom, bereit gemeldet. Das SAR-Team von SOS MEDITERRANEE – ein Rettungskoordinator und vier Seeleute – und das medizinische Team unserer Partner Médécins du Monde/Ärzte der Welt sind vorbereitet und trainiert. Unser Schiff hat zwei schnelle Rettungsboote, die jederzeit eingesetzt werden können. Im Aufnahmeraum des Schiffes unter Deck ist Platz für 200 Menschen. Insgesamt können im Notfall bis zu 500 Personen aufgenommen werden. Zwei Ärztinnen und zwei Krankenschwestern leisten die Notversorgung im dafür eingerichteten Hospital.
Tagsüber fährt die AQUARIUS in einem Abstand von 20 Seemeilen einen Kurs entlang der Küste. Die See ist rau in diesen Tagen, der Wind wechselnd zwischen Windstärke 4 und 6, die Wassertemperatur bei 17 Grad. Die Sonne scheint, die Sicht ist klar. Im Süden ist die Küstenlinie zu erkennen, eine niedrige Bergkette dahinter. In der Nacht sehen wir die Lichter entlang der Küste und den Schein von Tripoli.
Am Tage unserer Ankunft hat die Rettungsleitstelle ein Boot in Seenot mit 120 Menschen in unbekannter Position gemeldet. Zwei Tage später kam die Nachricht, dass 100 Menschen von einem Schiff der italienischen Marine gerettet worden sind, darunter 7 Frauen und ein Dutzend Jugendliche. Seitdem gab es keine Seenotmeldung. Bei rauer See und hohen Wellen sind keine Flüchtlingsboote zu erwarten.
Wir haben keine aktuellen Informationen über die Lage an der Küste von Libyen. Was wir wissen ist, dass die Lage der Flüchtlinge dort verzweifelt ist. Unser Team- und Besatzungsmitglied Sinawi Medine aus Eritrea, Übersetzer im Team von Médécin du Monde und von Beruf Fotograf, hat 2006 selbst in einem Flüchtlingsboot das Mittelmeer überquert. Schlepper halten die Menschen in Libyen wie Sklaven, erpressen sie und nutzen ihre Notlage aus. Der Jesuitische Flüchtlingsdienst auf Malta hat zuletzt im Januar 2014 über die Lage der Flüchtlinge dort berichtet. Der Bericht trägt die Überschrift „Beyond Imagination – Jenseits der Vorstellung“. Er beschreibt Männer und Frauen, die in Lagern, Häusern und Verschlägen an der Küste gefangen gehalten, erniedrigt, gequält, gefoltert und vergewaltigt werden. Seitdem hat sich nichts verbessert. Dass wir hier auf See nur auf sie warten können, ist kaum zu ertragen.
Heute, eine Woche nach dem Beginn unseres Einsatzes, treffen wir uns vormittags in der Messe zum Gespräch. Wir sprechen über das Mittelmeer. Hier zwischen Libyen und Sizilien ist das Meer 250 Seemeilen breit, das sind 460 Kilometer. Es ist der Wassergraben vor der Küste von Europa – mörderischer und effizienter als jeder Zaun und jede Mauer mit Hunden und Soldaten. Mit der AQUARIUS patroullieren wir als Rettungsschiff auf einem Todesstreifen, der allein im vergangenen Jahr 2015 mehr als 3600 Menschen getötet hat. Das Mittelmeer ist heute tödlicher, als es der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West jemals war. Es ist zur mörderischen Grenze geworden, die Europa im Süden und im Osten von seinen Nachbarn trennt, anstatt die Menschen miteinander zu verbinden.
Es ist das Mittelmeer, diese mörderische Grenze, die die Gewalt der Schlepperei erzeugt und am Leben hält. Nirgendwo gelten hier die Menschenrechte. Je perfekter diese Grenze ist, desto brutaler die Schlepper, desto verzweifelter die Flüchtlinge. In ihrer Verzweiflung wagen sie die gefährliche Flucht über das Meer. Sinawi Medine hat es selbst erlebt: wer so gequält, geschunden und verzweifelt ist, kennt nur noch einen Weg. Für einen letzten Funken Hoffnung war er bereit, auf einer Fahrt mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer sein Leben zu riskieren.
Auf der AQUARIUS sind wir bereit zum Rettungseinsatz. Wir hoffen, dass wir diese Menschen retten können.
Der fortschreitende Ausbau der Grenzen von Europa aber macht uns Angst. Er wird die Gewalt der Schlepper noch befördern. Die Lage der Flüchtlinge, die in Europa ihre letzte Hoffnung sehen, wird immer verzweifelter. Aber wir hören ihre Schreie nicht.
An Bord der AQUARIUS, den 5.3.2016